"Wir wollen zur Enttabuisierung des Themas Suizid in unserer Gesellschaft beitragen, miteinander darüber ins Gespräch kommen, konkrete Hilfsangebote aufzeigen und gemeinsam innehalten, erinnern sowie gleichzeitig für mehr Offenheit im Umgang mit seelischer Gesundheit werben." Mit diesen Worten erklärte Petra Hoffmann, Fachdienstleiterin der Beratungsstelle für psychische Gesundheit der Caritas-Kreisstelle Ingolstadt, weshalb sich ihr Dienst am heutigen Welttag der Suizidprävention auf dem Ingolstädter Rathausplatz beteiligte. Vertreten waren dort neben der Caritas mit eigenen Ständen zahlreiche Partnerorganisationen wie das Team Inklusion der Stadt Ingolstadt, der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern, das Netzwerk für psychische Gesundheit "Kulturbeutel" und "Mental Health First Aid" (MHFA), das Ersthelfer für psychische Gesundheit ausbildet.
62 T-Shirts auf dem Ingolstädter Rathausplatz symbolisierten beim Welttag der Suizidprävention 62 Menschen, die sich in der Region 10 im vergangenen Jahr das Leben genommen hatten. Foto: Caritas / Peter Esser
62 T-Shirts erinnerten an 62 Suizide
Auf dem Rathausplatz lagen 62 T-Shirts, die an die 62 Menschen erinnerten, die sich nach Information der Organisatoren im vergangenen Jahr in der Region 10 - dem Gebiet der Stadt Ingolstadt und den Landkreisen Eichstätt, Pfaffenhofen und Neuburg-Schrobenhausen - das Leben genommen hatten. "Jeder Suizid ist einer zu viel", sagte Ingolstadts Oberbürgermeister Dr. Michael Kern bei einer kurzen Ansprache vor mehreren Zuhörerinnen und Zuhörern in einem Aufklärungsbus, auf dem "Reden rettet Leben" steht. Der Welttag der Suizidprävention solle daher ein Tag der Aufklärung sowie der Trauer sein, so der Oberbürgermeister.
Am Caritasstand kam auch die 97-jährige Gertraud Kirschstein mit den Beratenden Petra Hoffmann und Korbinian Jais ins Gespräch. Foto: Caritas / Peter Esser
Am Stand der Beratungsstelle für psychische Gesundheit der Caritas kamen Petra Hoffmann und ihr Kollege Korbinian Jais mit mehreren Passantinnen und Passanten ins Gespräch. "Manche wollten wissen, wie schnell man einen Beratungstermin bekommt, andere, wie sie mit Angehörigen umgehen sollten, um die sie sich sorgen, weil sie eine Wesensänderung zeigen." Eine Passantin zeigte sich verunsichert, "weil meine Enkelin sich ritzt und in der Schule gemobbt wird. Ich hoffe, sie kriegt die Kurve." Sie zeigte sich dankbar für ein Gespräch am Caritasstand und dafür, dass sie in Prospekten des Krisendienstes Psychiatrie und der Beratungsstelle für psychische Gesundheit der Caritas Hinweise für weitere Hilfen bekam. Interessiert an den Informationen am Caritasstand zeigte sich auch die 97-jährige Gertraud Kirschstein.
Suizide haben die Caritas-Mitarbeitenden bei ihren Klienten nach Mitteilung von Petra Hoffmann in den letzten Jahren nur wenige mitbekommen, hingegen deutlich mehr Suizidversuche, "die auch in der Beratung thematisiert werden". Und mehr als die Hälfte der Beratenen zeige Suizid- oder Lebensunmutsgedanken. Das Problem betreffe Menschen in allen sozialen Schichten, allen Lebensaltern und Berufsgruppen. Ursachen für Suizidgedanken, - versuche oder gar Suizide sind Petra Hoffmann zufolge unter anderen Krankheiten wie Depressionen, Psychosen oder Persönlichkeitsstörungen, chronische Schmerzen, Suchterkrankungen, akute Belastungssituationen aufgrund von Trennung, Scheidung oder Tod, Einsamkeit, Wohnungslosigkeit, zwischenmenschliche Konflikte, Mobbing, Arbeitslosigkeit und finanzielle Schwierigkeiten. Suizidalität bei lebensmüden älteren Menschen äußere sich in Worten wie "Es ist an der Zeit zu gehen" oder "Es reicht".
Aufmerksam zuhören
Die Caritas-Mitarbeitenden helfen Betroffenen, indem sie aufmerksam zuhören, Verständnis für die Situation zeigen, konkret nachfragen, Möglichkeiten zur Entlastung und Stabilisierung mit ihnen besprechen, Notfallpläne erstellen, weitere Helfende wie Psychiater einbinden und beim Aufbau eines sozialen Netzwerkes unterstützen. Neben der Analyse von Risikofaktoren, zum Beispiel ob jemand einer besonderen Belastung ausgesetzt ist, gehe es auch darum, Perspektiven zu entwickeln, indem Schutzfaktoren ausfindig gemacht werden. "Dazu gehören zum Beispiel Partner und Kinder, Haustiere, das soziale Umfeld und religiöser Glaube, aber auch, dass viele Angst haben, dass beim Suizidversuch etwas schiefgeht", informiert Petra Hoffmann.
Angehörigen und Freunden rät sie, mit dem Betroffenen über dessen suizidale Absicht zu sprechen. "Die Befürchtung, man könne dadurch den Suizid erst provozieren, ist falsch. In aller Regel stellt es für einen suizidgefährdeten Menschen eine Entlastung dar, mit einer anderen Person über die quälenden Gedanken sprechen zu können", stellt die Caritas-Fachdienstleiterin klar. Wichtig sei, dass die Betroffenen ruhig und sachlich darauf angesprochen werden und man sich für das Gespräch an einem ungestörten Ort Zeit nimmt. Zuhören und die Verzweiflung ernst nehmen sei das A und O. Es solle nichts verharmlost werden nach dem Motto "ist doch nicht so schlimm" oder "das wird schon wieder". Vielmehr solle die betroffene Person motiviert und unterstützt werden, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Bei akuter Suizidalität solle man den Notruf 112 wählen, ansonsten könnten der Krisendienst Psychiatrie unter 0800 6553000 oder die Telefonseelsorge unter 0800 1110111 kontaktiert werden.
"In Deutschland sterben jährlich mehr als 10.000 Menschen durch Suizid. Das sind dreimal so viele Todesfälle als durch Verkehrsunfälle", macht Petra Hoffmann die Dimension deutlich. Zudem geht die Weltgesundheitsorganisation WHO davon aus, dass jeder Suizidtot fünf bis sieben Angehörige hinterlässt. "Das heißt, jährlich sind in Deutschland etwa 60 bis 80.000 Menschen direkt von dieser Todesart betroffen."
Gespräch kann sehr entlastend wirken
Die Trauer nach der Selbsttötung eines nahestehenden Menschen ist Petra Hoffmann zufolge oft über viele Jahre hinweg ein lebensbestimmendes Thema. Daher sei es wichtig, das Thema Suizid zu enttabuisieren. "Suizide sind vermeidbar. Menschen mit Suizidgedanken möchten nicht unbedingt sterben. Vielmehr wollen oder können sie unter den gegebenen Umständen nicht mehr weiterleben. Jeder kann Menschen in suizidalen Krisen unterstützen!", so die Caritas-Fachdienstleiterin, die ergänzt: "Ein Gespräch kann sehr entlastend wirken. Viele Betroffene berichten, dass der Leidensdruck abnimmt, die Suizidgedanken weniger stark und häufig werden, besser geschlafen wird und wieder mehr Hoffnung entsteht, wenn sie über ihre Suizidgedanken sprechen können.