Was ist Armut?
Armut in der Antike
In der Antike galt bereits als arm, wer mit seinen Händen arbeiten musste, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Ein Großteil der politischen Elite im antiken Rom war unermesslich reich. Ihre Wohltätigkeiten ("Brot und Spiele") ließen sie vor allem ihrer Wählerschicht, den römischen Bürgern, zukommen und sicherten sich damit politisches Ansehen und Einfluss. Die breite Maße an mittellosen Menschen und Nichtbürgern - Witwen, Sklaven, Prostituierte, Kriegsgefangene und streunende Kinder - fehlte es an Lebensnotwendigem, dennoch waren sie weder für die Politiker noch für die antiken Schriftsteller von Bedeutung. Sie waren keine Nutznießer dieser Wohltaten und so wissen wir heute kaum etwas über deren tatsächliche Lebenssituation.
Einen Einblick in den bitteren Alltag dieser untersten Gesellschaftsschicht gibt Johannes Chrysostomus (+407), einer der schärfsten christlichen Sozialkritiker der Antike.
"Wenn sie nicht durch Worte oder hingebungsvolle Bewegungen ihres Körpers andere erweichen können, geben sie die Rolle von Bettlern auf und übertreffen die geschicktesten Gaukler. Die einen zernagen das Leder von kaputten Schuhen, andere treiben sich Spitze Nägel in den Kopf, wieder andere tauchen bis zum Bauch in eiskaltes Wasser, wieder andere denken sich noch grausamere und schwindelerregendere Spielchen aus, um mit diesen tragischen und verbrecherischen Auftritten Gewinn zu machen! Und während dieser betrügerischen Spiele steht man dabei, mit lächelnder Miene und wie verzaubert. Die Schmerzen anderer - eine Beleidigung für die Menschheit - sind für euch ein Schauspiel!" (zit. n. Angenendt)
Revolution der Caritas und freiwillige Armut
Ab dem 11. Jahrhundert zeichnet sich in der Geschichte der Armut ein Wandel ab. Die französische Forschung spricht von einer "Revolution der Caritas". Sie hängt eng mit der gewaltigen Bevölkerungsexplosion zusammen, die seit dem 11. Jahrhundert die Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig veränderte. Forscher gehen davon aus, dass sich die Einwohnerzahl Europas von der Jahrtausendwende bis 1400 mindestens verdoppelte: Die Städte wuchsen und auf dem Land wurde neues Ackerland erschlossen. Gleichzeitig zeigte die Bevölkerung eine bis dahin nicht gekannte regionale Mobilität: Bauern zogen in die sich entwickelnden Städte, reisende Kaufleute belebten die Wirtschaft, Pilger machten sich auf den beschwerlichen Weg nach Rom, Santiago oder Jerusalem und Studierende aus allen Ländern kamen an die seit 1200 entstehenden Universitäten. Die Kehrseite dieser Entwicklung war eine schon für die Zeitgenossen bemerkenswerte Zunahme der Armut. Davon war zwar die ländliche Gegend ebenso betroffen wie die städtische, doch blieb sie im ländlichen Bereich eher verborgen. Die Städte dagegen wurden zum Anziehungspunkt für Arme und damit "wurde, zum ersten Mal in der Geschichte des Okzident, die Armut sichtbar". Betroffen von dieser Armut waren vor allem die Unselbstständigen: die Lohnarbeiter, Tagelöhner, Handwerksgesellen und das Gesinde. So gliederte sich die Bevölkerung der Stadt zunehmend in die "potentes", das heißt die Starken, und die "pauperes", die Armen und Leistungsschwachen. Diese neue Form der Armut provozierte eine Erwiderung: die freiwillige Armut der klösterlichen Gemeinschaften. Vor allem Franz von Assisi (*1181/1182, +1226) lebte sie mit konsequenter Radikalität und machte damit die unfreiwillige Armut sichtbar.
Die Caritas wird selektiv: "Müßig Bettelnder" und "würdiger Armer"
Zwischen 1346 und 1353 zog die erste große Pestwelle durch Europa und forderte rund 20 bis 25 Millionen Todesopfer, was rund einem Drittel bis der Hälfte der damaligen Bevölkerung entsprach. Die Pandemie veränderte nicht nur die Gesellschaft, sondern auch deren Haltung zu den Bedürftigen.
Um den Mangel an Arbeitskräften, vor allem auf dem Land, entgegenzuwirken und die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen, ordnete König Eduard III. von England 1349 die allgemeine Arbeitspflicht für Männer an und erließ scharfe Maßnahmen gegen das Betteln: "Da viele gesunde Bettler es ablehnen zu arbeiten, solange sie von erbettelten Almosen leben können […], darf niemand […] Leuten, die arbeitsfähig sind, unter dem Schein der Religiosität oder des Almosens etwas geben […]." Ähnlich scharf urteilte Thomas von Aquin in seiner "Summa theologica": "Zu bestrafen sind die starken Bettler, die nur ein müßiges Leben führen wollen." Während im Mittelalter Betteln noch kein Makel war, ändert sich diese Haltung mit Beginn der Frühen Neuzeit. Die Caritas, so kann man mit Franz Rexroth sagen, wird ‚selektiv‘ (Rexroth 2007).
Diese Kategorisierung in "müßig Bettelnde" auf der einen Seite und "würdige Arme" auf der anderen Seite, manifestiert sich als Grundhaltung bis in die Neuzeit. So empfahl das Caritashandbuch von 1922 den örtlichen Caritasverbänden die Bedürftigkeit und Würdigkeit von durchziehenden Bettlern genau zu prüfen. Es gelänge nämlich nicht selten, "diese als arbeitsscheue Landstreicher oder als Schwindler zu entlarven". Wenn aber die Wohltätigkeit "weniger leicht von unlauteren Elementen ausgenutzt" würde, könnten "würdige Arme um so reichlicher und zweckmäßiger" unterstützt werden
Armut - dreimal anders
Armut unterscheidet drei Arten von Bedürftigkeit: eine "absolute", eine "situative" und eine "relative" Armut. Die erste Gruppe umfasst zunächst jene Menschen, denen es am Lebensnotwendigen fehlt. Da es bei ihnen um die Grundversorgung mit Nahrung, Kleidung und Obdach geht, wird ihre Hilfsbedürftigkeit als "absolute Armut" bezeichnet.
Die zweite Gruppe beschreibt jene Mittellosen, die aufgrund ihrer physischen Konstitution und ihrer Lebenssituation, zumeist aber lebenszyklisch bedingt, also "situativ", auf Hilfe angewiesen sind. Das sind vor allem Alte, Kranke, Kinder und Witwen. Seit dem 14. Jahrhundert wird auch der Begriff "Hausarme" gebräuchlich. Er steht für jene Hilfsbedürftige, die zwar eine Wohnung oder Haus besitzen, aber dennoch um ihre Existenz ringen. Auch im Caritashandbuch von 1922 wird dieser Begriff für die Beschreibung von "verschämter Armut" benutzt.
Die dritte Gruppe bilden jene Bedürftige, die in "relativer Armut" leben. Ihnen fehlt es nicht am Lebens-, sondern am Standesnotwendigen. Otto Gerhard Oexle formuliert es treffend so:
» "Arm" ist demnach jeder, der das seinem "Stand" Angemessene nicht zur Verfügung hat und es nicht vorweisen kann: "Arm" ist also derjenige, "dessen Mittel zu seinem Zwecken nicht zu-reichen", wie der Soziologe Georg Simmel formuliert hat. Denn "Jedes allgemeine Milieu und jede besondere soziale Schicht" besitze "typische Bedürfnisse, denen nicht genügen zu können Armut bedeutet. (Simmel 1992, S. 548). (…) In einem solchen Fall mag also die physische Existenz gesichert sein, nicht jedoch das "soziokulturelle Existenzminimum".«
Literatur
Ausstellungstext Paderborn: Dr. Petra Koch-Lütke Westhues, Annika Pröbe M.A., Dr. Christiane Ruhmann © Paderborn, Erzbischöfliches Diözesanmuseum und Domschatzkammer, 2015
Arnold Angenendt: Die Geburt der christlichen Caritas. In: Christoph Stiegemann (Hg.): Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart; Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn [23. Juli bis 13. Dezember 2015]. Petersberg 2015, S. 40-51.
Christoph Stiegemann: Vorwort. In: Christoph Stiegemann (Hg.): Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart; Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn [23. Juli bis 13. Dezember 2015]. Petersberg 2015, S. 15-20.
Otto Gerhard Oexle: Zwischen Armut und Arbeit. Epochen der Armenfürsorge im europäischen Westen. In: Christoph Stiegemann (Hg.): Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart; Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn [23. Juli bis 13. Dezember 2015]. Petersberg 2015, S. 52-73.
Caritas-Handbuch, hg. v. Kuno Joerger. Freiburg i. Br. 1922.