Alexander Korittko referierte bei der Diözesan-Arbeitstagung der Caritas-Erziehungsberatungsstellen über Traumata bei Kindern. Foto: Caritas / Peter Esser
Wann ist etwas ein Trauma und wann ist etwas "nur" Stress? Wann kommt es zu emotionalen Traumata von Kindern? Und wie können Kinder ihre traumatischen Erfahrungen positiv verarbeiten? Mit solchen Fragen haben sich rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der fünf Erziehungs- und Familienberatungen der Caritas im Bistum Eichstätt bei ihrer jährlichen Diözesan-Arbeitstagung am Mittwoch im Moierhof Pfünz auseinandergesetzt. Als Experte und Referent war der Hannoveraner Alexander Korittko eingeladen. Der Diplom-Sozialarbeiter sowie Paar- und Familientherapeut war 37 Jahre in einer kommunalen Beratungsstelle tätig und ist Mitbegründer des Zentrums für Psychotraumatologie und Trauma-zentrierte Psychotherapie Niedersachsen.
Stress und Trauma
Rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Erziehungsberatungsstellen nahmen an einer diözesanen Tagung in Pfünz teil. Foto: Caritas / Peter Esser
Zu Beginn der Tagung zeigte Korittko zwei Fotos: eine Frau, die in einem riesen Stapel aus Papier an ihrem Schreibtisch "ertrinkt" und einen Mann, der nach einem Computerabsturz verzweifelt ist. Laut dem Referenten entsteht bei solchen Situationen in der Regel kein Trauma, sondern Stress. Anders könnte es allenfalls sein, wenn durch den Computerabsturz eine Dissertation verloren gegangen ist und keine Sicherungskopie vorliegt. Eine zentrale Frage bei der Tagung lautete: Wie können wir verstehen, dass Menschen, die eine existenziell bedrohliche Situation - oder eine Reihe von solchen Bedrohungen - erlebt haben, auch später noch in Über- oder Untererregung geraten, wenn sie daran durch einen "Trigger" - also einen Auslöser - erinnert werden? Der Referent nannte hierzu das Beispiel eines Jungen in einer Pflegefamilie, der aus unerfindlichen Gründen nie das Wohnzimmer betritt. Eines Tages finden die Pflegeeltern den Jungen doch im Wohnzimmer, wo er einen Bambusstab zerstückelte. Es stellte sich heraus, dass der Junge in seiner frühen Kindheit mit einem Bambusstab geschlagen wurde. Der Junge zeigte sich im Wohnzimmer übererregt. Hätte er versteinert und passiv vor dem Bambusstab gesessen, wäre er untererregt gewesen. In jedem Fall, so Korittko, sei es zu einer Traumadynamik nach dem Motto "Wenn die Wunde verheilt ist, schmerzt die Narbe" gekommen.
Der Referent nannte vier Gründe, weshalb es zu emotionalen Traumatisierungen von Kindern kommt. Der häufigste sei, dass sie Zeugen häuslicher Gewalt werden. Oft komme es auch zu einer Traumatisierung bei Kindern, wenn sie ständig erniedrigt und beleidigt werden: zum Beispiel mit den Worten "Dich braucht niemand! Ich hätte dich abtreiben sollen". Zu emotionaler Traumatisierung komme es auch durch "Parentifizierung". Diese liegt dann vor, wenn noch junge Kinder in die Rolle der Eltern schlüpfen, um diese zu schützen. Sie räumen zum Beispiel schnell die Flaschen weg, um die Alkoholkrankheit ihrer Eltern zu verheimlichen oder kochen für die ganze Familie, weil die Eltern dazu nicht in der Lage sind. "Dadurch verlieren sie ihre eigene Kindheit", so Korittko. Schließlich könnten Kinder auch emotional traumatisiert werden, wenn sie in ihrer normalen Entwicklung durch Verbote eingeschränkt werden, indem sie zum Beispiel nicht an Ausflügen mit anderen Kindern oder am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen.
Trauma-Erzählgeschichten helfen
In einem zweiten Teil der Tagung demonstrierte der Referent den Beteiligten, wie kleine Kinder mit der Intervention der Trauma-Erzählgeschichte ihre Symptome und dadurch ihre eigenen bedrohlichen Erfahrungen als Vergangenheit verstehen lernen und positiv verarbeiten können. Korittko erzählte hierzu die Geschichte eines Jungen, der von seinem Vater in seiner Kindheit durch ein Hirschgeweih abgeschreckt wurde. Jedes Mal, wenn der Junge in seinem weiteren Leben ein Hirschgeweih sah, wurde dieses Trauma erneut in ihm ausgelöst. Die Pflegeeltern erzählte dem Kind daraufhin die Geschichte von einem Hirsch, der kinderlieb ist, sodass der Junge die Erfahrung machte, dass Hirsche grundsätzlich friedliche Tiere sind. Dies half dem Jungen, sein Trauma positiv zu verarbeiten.
Eine Mitarbeiterin einer Erziehungsberatung fragte den Referenten, ob Kinder auch Traumata bekommen könnten, wenn sie Videos, die Gewalt zeigen, sehen. Korittko sagte dazu, dass man bis vor kurzem noch davon ausgegangen sei, dass dies nur der Fall sein könne, wenn durch die gezeigte Gewalt Verwandte oder Freunde der Kinder getötet oder verletzt werden, wie dies zum Beispiel beim Attentat durch islamische Terroristen auf das World-Trade-Center am 11. September 2001 der Fall war. Diese Sicht habe sich jedoch geändert. Inzwischen würden manche Influencer Filme von schwerer Gewalt zeigen: unter anderem vom Krieg in der Ukraine oder auch von Situationen, bei denen Filmer zum Beispiel durch die Aufnahme eines sinkenden Schiffes, auf dem sie sich selbst befinden, ihren eigenen Tod live darstellten. Es sei davon auszugehen, dass solche Bilder und Filme bei jungen Menschen auch Traumata auslösen können, obwohl niemand aus dem eigenen Bekanntenkreis betroffen ist.