Heute kommt er allein, dachte ich, als Isni, ein junger Mann, 17 Jahre alt, zu mir in die Beratung kam. Nicht wie üblich mit dem Vater und der Stiefmutter. Seit Jahren waren mir die drei und ihre Probleme wie Unfallrente, Aufenthaltserlaubnis, Kindergeld oder Wohnung bestens bekannt. Isni fing an zu erzählen. Sein Vater hatte ihn in die Heimat nach Kosovo geschickt, um nach den kleineren Geschwistern zu sehen, die dort in einem kleinen Dorf lebten, weil sie keine Mutter mehr hatten. Heute war er nach Ingolstadt zurückgekommen, hatte aber in der Wohnung niemand mehr angetroffen. In der Zeit seiner Abwesenheit war der Vater mit der Stiefmutter umgezogen. Was nun, dachte ich … Ob er Geld hätte, fragte ich ihn. Er hatte natürlich keines. Ich holte mein Geldbeutel und gab ihm 50,-- DM, mein letztes Geld, wollte eigentlich nach der Arbeit einkaufen gehen, aber der Junge hat es nötiger gebraucht. Er musste ja was essen. Als ich ihn fragte, ob er jemand kennt, wo er schlafen könnte, sagte er, dass im Nebengebäude die Wohnungen renoviert werden und er dort übernachten würde. Was weiter? Mir kam die Idee, dass er auf der Baustelle arbeiten könnte und fragte ihn, ob er das möchte. Natürlich wollte er. Also verabredeten wir uns am Abend in einem kleinen Lokal, wo wir alles besprechen würden. Dann wird man weiter sehen. Er ging mit auf die Baustelle. Am Morgen wurde er abgeholt, bekam Arbeitskleidung, Brotzeit, arbeitete brav und bekam abends seinen Lohn, einige Tage. Dann war Isni weg - verschwunden. Es war Heilig Abend, einige Jahre später, wir machten uns auf den Weg zur Christmette, da läutete das Telefon. Isni meldete sich aus der Schweiz, er wollte mir sagen, dass es ihm gut geht, bedankte sich nochmals bei mir und wünschte ein frohes Fest. Ich habe mich sehr gefreut und war erleichtert. Viele Jahre später klopfte es an meiner Bürotür, es war schon nach der Sprechzeit. Ich öffnete und vor mir stand ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern. Der Mann hat schon sein Haupthaar verloren, die Frau sehr sympathisch und süße zwei kleine Buben. Ich fragte, ob ich helfen könnte. Da fragte der Mann, ob ich ihn nicht mehr kennen würde. Als ich ihn genauer betrachtete, in seine schönen dunklen Augen schaute, da kam es mir. "Du bist Isni", sagte ich. Ja, er war es. Er kam vorbei, um mir seine Familie vorzustellen, er würde wieder im Land sein und es ginge ihm gut. Mitarbeiterin (65 Jahre)
Schon seit einigen Jahren arbeite ich als Lehrerin in Integrationskursen. In der letzten Zeit sind, wie jeder weiß, zunehmend Flüchtlinge in diesen Kursen. Da ist man manchmal die "Mutter der Kompanie". Vielleicht sollte man einen professionellen Abstand wahren zu den Sorgen und Nöten der Kursteilnehmer. Aber was macht man, wenn eine Kursteilnehmerin vor einem steht, in Tränen ausbricht und berichtet, dass sie und ihr Mann von einer normalen Unterkunft in eine Erstunterkunft, sprich Fabrikhalle, zurückverfrachtet wurden? Aus Gründen, die sie nicht selbst zu verantworten hatten. Man versucht zu helfen. Und gerät dabei irgendwann an seine persönlichen Grenzen. Der nächste Fall ließ nicht lange auf sich warten. Ein Hilferuf eines ehemaligen syrischen KT erreichte mich. Familiennachzug. Sie wohnen zu fünft auf 9(!) qm. Kommentar meines Mannes: Das geht doch gar nicht! Nun, die Eltern im Einzelbett, die Kinder auf Matratzen davor. Ein unhaltbarer Zustand. Eigentlich hatte ich gerade erst den Wohnungssuchemarathon mit dem jungen Ehepaar hinter mir. Es war mir eigentlich schon zu viel geworden. Ganz bestimmt litt ich an einem Helfersyndrom. Aber irgendwie steckte ich jetzt da drin. Was sollte ich tun? Es war Herbst, den Winter über die fünf Personen in dem winzigen Raum? Auch hier gestaltete sich die Wohnungssuche natürlich als äußerst schwierig. Irgendwann bekam ich einen Anruf aus dem Pfarrbüro. Die Caritassammlung. Das auch noch. Aber da konnte ich wenigstens den Hund mitnehmen. Meine Nachbarin brachte mir die Unterlagen vorbei. Irgendwie kamen wir im Gespräch darauf, dass wir doch einmal unsere Sammelgebiete tauschen könnten. Sie meinte, da wäre ich schneller durch, die Leute seien dort nicht alle so gebefreudig. Tatsächlich war es so. Aber manchmal bin ich hartnäckig. Der jungen Frau an der Türe erklärte ich ausgiebig, wofür die Caritas steht, was die Aufgaben der Caritas sind, dass die Caritas hierbei keinen Unterschied mache bezüglich Religions- oder Staatsangehörigkeit. Das ließ sie aufhorchen. "Ach wissen Sie, mir hat kaum jemand geholfen, als ich hier in Deutschland ankam…eigentlich würde ich viel lieber Flüchtlingen bei der Wohnungssuche helfen!" Ob sie gesehen oder gehört hat, wie ein großer Stein zu Boden fiel? Natürlich hatte ich mir zu viel zugemutet, hatte gedacht, ich müsste alles im Alleingang bewältigen. Ziemlich blöd, das alles, selber schuld und unprofessionell! Aber hier war jemand, der mir eine Last abnehmen wollte, eine Last, die schon arg zu drücken begann. Aber wenigstens konnte ich e i n e n Rucksack abgeben. Dem Himmel sei Dank. Für mich hatte sich der Tausch der Sammelgebiete wahrlich als Glücksfall herausgestellt. Er brachte Erleichterung in einer Zeit großer Anspannung und Erschöpfung. Ich war sehr dankbar für diese glückliche Fügung! Ich sammle immer noch in diesem Gebiet und freue mich über jeden Euro, der Notleidenden zugute kommt und jede nette Begegnung. Sammlerin- Mein Caritas-Moment
Vor Jahren bekam ich zusammen mit meinem Team den Auftrag, eine Patientin mit der Diagnose Brustkrebs zu übernehmen. Beide Brüste waren amputiert, so die Vorinformation. Am nächsten Tag fuhr ich zur genannten Adresse. Der Mann der Patientin öffnete mir die Tür und wir gingen sofort nach oben zu seiner Frau. Beide waren sehr sympathisch und wir verstanden uns auf Anhieb sehr gut. Nach einer kurzen Begrüßung zeigte mir die Frau die Stellen der Amputation, wo, wie ihr Mann sagte, vor ein paar Tagen noch schöne Brüste waren. Am Anfang sah ich nicht viel, da die Stellen mit Küchenrollen-Papier bedeckt waren. Nach kurzer Überlegung wollte ich das Papier abnehmen, aber die Frau bat mich, es nicht zu tun, da der Arzt angeordnet hatte, nur die obere Schicht zu entfernen. Bei vollständiger Abnahme der Papierschichten drohe sie zu verbluten. Auch im Krankenhaus sei das so versorgt worden. Nach ca. einer Woche aber waren die Stellen so blutig und eitrig, dass sie mir doch erlaubte das Papier zu entfernen und die Stellen zu reinigen. Es hatte sich auch ein unangenehmer Geruch gebildet. Nach dem Entfernen des Papiers begannen die Wunden tatsächlich so heftig zu bluten, dass wir alle Angst bekamen. Mit Hilfe des Mannes konnte ich die Blutung allerdings stoppen. Während meiner Besuche bemerkte ich, dass der Mann immer in die Garage ging, den Motor seines Audi Oldtimers startete und einige Zeit laufen ließ. Immer wenn die Frau das Geräusch des Motors hörte, war sie sehr glücklich, denn sie hatte die Fahrten in dem Auto geliebt und erinnerte sich sehr gerne daran. Nach ein paar Wochen bat sie mich, um 14 Uhr zum Kaffee zu kommen, da wir ein sehr gutes Verhältnis aufgebaut hatten. Ich sagte zu, obwohl wir das sonst nicht tun, aber in diesem Fall spürte ich, dass es für die Frau ganz besonders wichtig war. Ich kam um 14 Uhr wie vereinbart zum Kaffee, sie freute sich sehr. Beim Kaffee unterhielten wir uns und lachten viel. Danach bat sie mich, mit ihr zu beten. Wir sprachen das Vater unser. Sie bat ihren Mann noch, den Schrank zu öffnen und mir für jede Caritas-Schwester, die bei ihr war, eines ihrer Abendkleider zu geben. Er sollte an jedes Kleid einen Zettel mit dem Namen der Schwester schreiben, für die sie es aussuchte. Und ich sollte sie abgeben, was ich auch tat. Zum Schluss bedankte sie sich noch herzlich für unsere Arbeit und umarmte mich. Zu ihrem Mann sagte sie: "Und du, küss mich ganz fest." Und er küsste sie mit sehr viel Gefühl. "Das war der letzte Kuss", sagte sie noch und in diesem Moment war alles vorbei, sie schlief ein. Danach wollte der Mann alleine sein. Er hatte schon gespürt, dass seine Frau gehen würde. Seinen Oldtimer schenkte er später dem Audi Museum. Nur wenige Monate nach seiner Frau starb auch er. Ich denke sehr oft an dieses Paar. In meiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit in der Sozialstation hörte ich den Satz: "Danke, dass es euch gibt" immer wieder und freue mich immer ihn zu hören. Ich empfinde diese Arbeit als wunderschön und bereichernd, ich bin dankbar, diese Arbeit tun zu können, auch wenn es manchmal schwierig ist. Danke. Mitarbeiterin (63 Jahre)- Mein Caritas-Moment
Seit fast dreißig Jahren arbeite ich in der Caritas-Sozialstation Ingolstadt, viele Jahre davon als Pflegedienstleitung. An ein Ereignis denke ich immer mal wieder und es entlockt mir noch heute ein Schmunzeln. Herr S. erhält immer an einem bestimmten Wochentag, planmäßig am späten Vormittag, eine hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Mitarbeiterin der Sozialstation. In der ambulanten Pflege passiert es ja immer mal wieder, dass ein Patient die Türe nicht öffnet, obwohl ein Termin für die Versorgung vereinbart ist. So war es auch an diesem Tag bei Herrn S. Zunächst macht sich die Mitarbeiterin keine Sorgen, vielleicht hat Herr S. einen Arzttermin und hat einfach vergessen, uns Bescheid zu geben. In gewissen Zeitabständen versucht die Mitarbeiterin, Herrn S. telefonisch zu erreichen, leider erfolglos. Da sie weiß, dass er manchmal das Telefon nicht hört, ist sie nach zwei Stunden erneut vor der Wohnungstür und klopft und klingelt, wieder ohne Erfolg. Sie verständigt mich, und so greift die in solchen Fällen übliche Vorgehensweise. Es gibt keine Angehörigen. Auch Nachbarn, Hausarzt, Rettungsdienst und umliegende Kliniken wissen nichts über den Verbleib von Herrn S. Da in unserer Sozialstation üblicherweise der Verbleib eines vermissten Patienten bis zum Abend geklärt sein muss, entschließen wir uns, nach einer weiteren vergeblichen Anfahrt, die Wohnung aufbrechen zu lassen. Nach kurzer Zeit erscheint die Feuerwehr und öffnet im Beisein unserer Mitarbeiterin die Wohnungstür. Herr S. sitzt im Wohnzimmer und schaut Fernsehen. Als er den Tumult bemerkt und ihm die Situation erklärt wird, meint er ganz cool: "Eigentlich bin ich ganz froh, dass es so gelaufen ist, denn jetzt bin ich ganz sicher, dass ich, wenn mir was passiert, nicht wochenlang in der Wohnung liege, sondern dass ich mich immer auf meine Caritas verlassen kann." Er hatte einfach den Wochentag verwechselt, sein Hörgerät nicht verwendet und deshalb weder das Telefon noch das Klopfen und Klingeln gehört. Ein paar Tage später erhielt die Mitarbeiterin einen Wohnungsschlüssel "für alle Fälle". Mitarbeiterin (61 Jahre)- Mein Caritas-Moment